DKP Schöneberg: Vortag über die politische und Wirtschaftliche Lage der Türkei

Auf Einladung der Bezirksorganisation der DKP-Berlin-Schöneberg hat Genosse Nazim Yilmaz vor den Mitliedern der Ortsgruppe über die politische und wirtschaftliche Lage der Türkei einen Vortrag gehalten. Unten veröffentlichen wir die Rede von Genosse Yilmaz.

Liebe Genossinnen und Genossen,

Ich danke Euch für eure Einladung. Ich werde heute versuchen, Euch über die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Türkei zu berichten.

Heute herrscht in der Türkei Herr Erdogan. Er ist ein Autokrat und hat in der Türkei ein islamisch-faschistoides, diktatorisches Regime errichtet. Er ist Alleinherrscher des Landes, seine Minister sind seine Privatsekretäre, vollstrecken nur seine Anweisungen. Er behandelt das Land wie sein Eigentum, die Staatskasse wie sein Vermögen. Er plündert das Land, den Staat selbstherrlich aus und bereichert ständig sich und seine Familie und seine enge Umgebung, seine Oligarchen, die fünf Bauunternehmer, die die größten staatlichen Bauaufträge bekommen. Er wohnt in seinem Palast wie ein Sultan und führt isoliert vom Volk ein Leben in Prunk und Pracht. 

Das Regime in der Türkei ist noch kein Faschismus. Aber es geht in diese Richtung und alle faschistischen Praktiken werden angewendet. Es gibt eine Scheindemokratie mit Parlament und Oppositionsparteien, mit Gewerkschaften und Zivilgesellschaften. Aber ihre Handlungsfähigkeiten sind stark eingeschränkt. Die staatliche und außerstaatliche Repression ist allgegenwärtig, besonders in Kurdistan. Es gibt private, paramilitärische Organisationen, wie die Grauen Wölfe, Osmanische Gemeinschaften, SADAT, die die Macht von Erdogan absichern und ermöglichen sollen, dass er die kommenden Wahlen im Juni 2023 unbedingt gewinnt. Selbst von einem Bürgerkrieg wird offen gesprochen, wenn die Wahlen verloren werden. 

Die bürgerliche Demokratie funktioniert nicht mehr. Die Gewaltenteilung wurde faktisch aufgehoben. Die staatliche Gewalt liegt in der Hand eines Mannes, eines Herrn Erdogan. Er ist der oberste Befehlshaber der Streitkräfte, er ist oberster Richter und Staatsanwalt des Landes, er ist oberster Gesetzgeber des Landes. Er regiert das Land mit Dekreten, als ob im Land immer noch ein Ausnahmezustand herrschen würde. Er beherrscht die Gerichte. Anklagen gegen Politiker, Akademiker und Kulturschaffende werden auf seine Anordnung erhoben, wie es im Fall von Demirtas, dem früheren HDP-Vorsitzenden, und Kavala, dem Kulturveranstalter, und anderen geschah. Oft wird das Strafmaß selbst von ihm persönlich festgelegt. Wenn gelegentlich ein Richter anders entschied, wurde er sofort versetzt und verbannt. An seine Stelle wurde ein Vertrauter von Erdogan eingesetzt und sofort wurden die alten Beschlüsse aufgehoben. So blieben die Gefangenen weiter in Haft. Das wird staatliche Geiselnahme genannt – und das ist die Lage von Demirtas und Kavala. Sie sind Geisel des Staates. Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Beschlüsse der Türkischen Gerichte annulliert hat, werden die Beschlüsse des Gerichtshofs ignoriert, Demirtas und Kavala unrechtsmäßig willkürlich seit Jahren in Haft gehalten. Aber nicht nur Demirtas und Kavala sitzen in Haft, sondern Tausende kurdische Politiker und Journalisten.

Es gibt eine bunte Presse in der Türkei. Man glaubt, es gibt in diesem Land eine Presse- und Meinungsfreiheit. Aber der Schein trügt. Die Presse ist nahezu gleichgeschaltet. 95 % der Zeitungen und der TV-Sender werden von Erdogans Partei AKP kontrolliert. Jetzt wird auch für die Kontrolle der sozialen Medien ein Gesetz vorbereitet. Es gibt einen „Obersten Rat für Radio und TV-Sender“ (RTÜK).  Wenn in einer TV-Sendung kritische Worte gegen Erdogan geäußert werden, verhängt dieser Rat über diesen Sender große Geldstrafen und Sendeverbote. Wer wagt, in den sozialen Medien Erdogan zu kritisieren oder ihm einige kränkende Worte zu sagen, sagt, muss damit rechnen, dass am nächsten frühen Morgen die Polizei vor seiner Tür steht. Dann kann es nur der große Allah wissen, wann er oder sie wieder freikommt. Die Zahl der Menschen, gegen die Erdogan wegen Beleidigung Klagen erheben ließ, beträgt 38 Tausend 581 zwischen den Jahren 2014-2020.  Trotzdem gibt es mutige JournalistInnen und Menschen, die sich nicht einschüchtern lassen und Herrn Erdogan die Stirn bieten. Besonders junge Menschen und Frauen widersetzen sich unerschrocken den Repressalien Erdogans. Mit kreativen Aktionen protestieren sie gegen seine Willkürherrschaft. 

Erdogan ist auch der oberste Ökonom des Landes. Keine Wirtschaft- oder Finanzexperte und keine Wirtschaftsprofessoren wissen, wie das Land aus der Wirtschaftskrise herausgeführt werden kann, nur Erdogan weiß es. Er hat auch darüber ein Buch geschrieben. Nach seiner Theorie müssen Zinsen niedrig gehalten werden, da die hohen Zinsen die Ursache für die hohe Inflation seien. Mit niedrigen Zinsen verschafft er den Unternehmen billige Kredite. Dazu werden auch die Lohnerhöhungen unter der Inflationsrate gehalten. So werden besonders die Produktionskosten für die Produkte, die für den Export bestimmt sind, niedrig gehalten. Erdogan möchte aus der Türkei ein Exportland für Billigprodukte machen und hofft auf ausländische Investitionen und Aufträge.

Aber die ausländischen Investoren kommen nicht, weil der Türkei die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie fehlen und die Zentralbank keine Unabhängigkeit besitzt, die Devisenkurse stark schwanken. Wenn es aber vom Ausland kein frisches Geld gibt, keine Dollars ins Land fließen, dann geht es der türkischen Wirtschaft nicht gut. Inflation und Abwertung der türkischen Lira sind die Folgen. Momentan erlebt das Land eine Hyperinflation und eine Hypergeldabwertung. Die offizielle Inflation, die vom staatlichen Statistikamt (TÜIK) mit Erlaubnis von Erdogan verkündet werden durfte, beträgt 73,5%. Aber die Inflation, die von unabhängigen Wirtschaftsexperten berechnet wurde, beträgt 160,76 %. Sobald der Präsident oder ein Mitarbeiter des statistischen Amtes, das ja unabhängig sein soll, es wagt, näherungsweise die echten Zahlen zu veröffentlichen, wird er sofort gefeuert. Allein in der letzten Zeit mussten fünf Präsidenten hintereinander gehen.

Die Abwertung der türkischen Lira ist noch rasanter. Vor einem Jahr kostete 1 Dollar 8 Lira 50. Heute kostet 1 Dollar 17 Lira 20. Um diesen Schwund des Wertes der Lira zu stoppen, versuchten die Präsidenten der unabhängigen Zentralbank die Zinsen zu erhöhen. Das ist aber für Erdogan inakzeptabel, da dies den Bankrott seiner Wirtschaftspolitik bedeutet. Er lässt lieber das Land Bankrott gehen, aber nicht seine Politik. Er feuerte auch in der letzten Zeit hintereinander vier Präsidenten der unabhängigen Zentralbank, die sich ihm widersetzten. Hier kann von einer Unabhängigkeit keine Rede sein.

Der Anteil der internationalen Preiserhöhungen infolge des Ukrainekrieges ist an diesen schlechten Wirtschaftszahlen sehr „gering“. Die schlechten Wirtschaftszahlen sind ein hausgemachtes türkisches Problem. Sie sind die Folge der Wirtschaftspolitik Erdogans. Schon fast zwei Monate vor dem Ukrainekrieg, am 1. Januar 2022, wurden die Strompreise um 50-125 % erhöht (der monatliche Verbraucht bis 150 kwh mit 50%, darüber 125%). Diese Erhöhung war mit der starken Abwertung der türkischen Lira verbunden.   Eine andere allgemeine Inflationsursache ist die Abhängigkeit der türkischen Wirtschaft vom Ausland, von Dollar. Die türkische Industrie kann nur produzieren, wenn Zwischenprodukte importiert werden. Der Anteil der importierten Teile an produzierten Produkten beträgt 70 %. Das verursacht jedes Jahr ein Außenhandelsdefizit zwischen 50-60 Milliarden Dollar. Dieses Geld soll vom Ausland beschafft werden. Als Erdogan 2003 an die Macht kam, war es einfach, dieses Geld auf dem internationalen Markt zu beschaffen. Damals suchten überflüssige Eurodollar Investitionsmöglichkeiten und fanden sie auch in Erdogans Türkei. Unter diesen Umständen ging es der Türkei und den Türken sehr gut. Dollar waren da und Erdogan war ein guter Ministerpräsident bzw. Präsident, da er angeblich ein guter Dollarbeschaffer war und ist.

Es änderte sich aber sichtbar ab 2016 – nach dem  inszenierten Putsch des Predigers Gülen und von seinen Leuten und Generälen. Erdogan wurde immer autoritärer und begann, das Land diktatorisch zu regieren. Willkürlich wurden seine Gegner, Kurden und andere demokratische Kräfte, von Arbeitern und Geschäftsleuten bis zu Akademikern, verfolgt und verhaftet. Seine Beziehungen zum Westen, insbesondere zu den USA und der EU, wurden schlechter. Die wirtschaftliche Lage hat sich auch ständig verschlechtert. Es wurde schwieriger, auf dem internationalen Markt Geld zu beschaffen. Immer mehr ausländische Investoren verlassen das Land und neue kommen nicht mehr.

Unter diesen Umständen war Erdogan gezwungen, auf die Reserve der Zentralbank zurückzugreifen. Er lässt die Zentralbank durch die „Hintertür“ Dollar verkaufen. So konnte die Abwertung der Lira gebremst werden. Doch schleichend verlor die Lira ihren Wert gegenüber dem Dollar: von 3 Lira 2016 auf 8 Lira 50 2021. Als bekannt wurde, dass Erdogan die ganze Reserve der Zentralbank, über 128 Milliarden Dollar, verkaufen ließ, begann die Lira, schnell an Wert zu verlieren: Für 1 Dollar warenzeitweilig 20 Lira zu zahlen. Bis heute ist es ein Staatsgeheimnis, wie und wem diese Reserve verkauft wurde. Seitdem befindet sich die Türkei in einer Wirtschaft- und Finanzkrise und sucht dringend Devisen. Da auf dem internationalen Markt die Beschaffung der Kredite fast nicht möglich ist, sucht die Regierung auf krummen Wegen, Dollar zu finden. Dafür sind auch die kriminellen Wege wie Drogengeschäfte, Geldwäsche, Zusammenarbeit mit Mafia kein Tabu mehr. Aus Kolumbien kommt Kokain tonnenweise mit Schiffen und Flugzeugen. 

Ja, die Türkei befindet sich in einer tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise. Während die Banken und Großunternehmen unter der Krise ihre Gewinne verdoppeln, leiden darunter die Werktätigen, Lohn- und Gehaltsempfänger, Rentner, Bauern, Kleinhandwerker und Gewerbetreibende. Die Inflation frisst ihr Einkommen. Von dem Geld, das sie verdienen, können sie nicht mehr leben. Die Preise für Lebens- und Nahrungsmittel, für Strom und Gas, für Benzin und Diesel sowie die Mieten sind in der letzten Zeit so drastisch erhöht, dass die Menschen schreien, dass sie verhungern, dass sie ihre Miete und Stromrechnungen nicht mehr zahlen können. Obwohl die Armutsgrenze bei 6017 Lira liegt, beträgt der Mindestlohn 4253 Lira  und das macht 230 €. Die billigste Miete kostet nicht nur in Istanbul auch in Anatolien über 2000 Lira, das ist die Hälfte des Mindestlohnes. 6,5 Millionen Menschen  arbeiten für Mindestlohn. Die Lage der anderen Werktätigen ist nicht besser. Selbst die Ärzte bekommen  nur 8-10 Tausend Lira (430-540 €). Viele verlassen das Land und versuchen, im Ausland zu arbeiten. Während die Preise ständig steigen, werden die Löhne und Gehälter, Renten nicht erhöht. Die Kaufkraft der Werktätigen ist rapide gesunken und ihre Lebensbedingungen haben sich dramatisch verschlechtert. Die Preise für Wurst und Käse, Milch und Fleisch, Tomaten und Kartoffeln sind oft höher als hier in Deutschland. Fast 4 Millionen Haushalten wurde der Strom gesperrt, da sie ihre Stromrechnung nicht bezahlen konnten. Es gibt fas keinen Tag, an dem die Preise nicht erhöht werden. Der Finanzminister Nebati drückt diese Entwicklung im Wirtschaftssystem von Erdogan offen aus: „In diesem System sind die Verlierer die Lohnempfänger, die Gewinner die produzierenden und exportrierten Unternehmer. Die Räder drehen sich.“

Man könnte annehmen, unter diesen Bedingungen würden die Massen auf die Straße gehen und gegen Erdogan protestieren und ihn stürzen. Aber sie tun das – noch – nicht. Es gibt Streiks und Proteste, aber nicht massenhaft. Die Gründe sind dafür unterschiedlich.

Zum einen gibt es in der Türkei keine klassenbewussten, fortschrittlichen, geschweige revolutionären Arbeiterorganisationen mehr, weder Gewerkschaften noch Parteien, die die Massen bewegen könnten. Die bürgerlichen Oppositionsparteien möchten nicht die Massen gegen Erdogans Politik auf die Straße bringen, da sie Angst haben, die Kontrolle über die Massen zu verlieren. Dann könnten die Kurden und die Linkskräfte die Oberhand auf der Straße gewinnen. Deshalb plädiert man für vorgezogene Wahlen, an denen Erdogan abgewählt wird. So sollen die Wahlen die erwartete Erlösung von ihm bringen. Viele glauben nicht daran. Aber hoffen muss man.

Zum anderen kommen die Menschen irgendwie mit der Krise noch klar. Entweder verbrauchen sie noch ihre restlichen Ersparnisse oder sie haben immer noch Bindungen zum Dorf, woher sie noch Nahrungsmittel beziehen. Auch die zwischenmenschliche und gesellschaftliche Solidarität wirkt noch sehr stark. Den Menschen, die in Not sind, wird irgendwie geholfen. Zum Beispielwerden die Stromrechnungen von wohlhabenden Bürgern übernommen. Die Kommunen, deren Bürgermeister von der Opposition gestellt werden, organisieren Suppenküchen, Verkaufsstellen für billiges Brot, Obst und Gemüse. Solche Aktionen fangen die Proteste ab. Aber das geht auch langsam zu Ende. Die Wut der Menschen sucht einen Moment, wo sie explodieren kann. Vielleicht passiert es während der Wahlkampagne.

Sehr aktiv sind zurzeit die Frauen, die Umweltschützer und die Kurden. Mit ihren unbeugsamen Kämpfen bieten sie Herrn Erdogan Paroli. Die Frauen leiden am meisten unter der autoritären Herrschaft Erdogans, insbesondere unter seinem konservativ islamisch-klerikalen Frauenbild. Unter seiner Herrschaft hat sich die gesellschaftliche Stellung der Frauen drastisch verschlechtert. Die laizistische, aufgeklärte Auffassung von der Gleichstellung von Mann und Frau wurde zurückgedrängt und der Frau wurde wieder die klassische Rolle der Hausfrau und Mutter auferlegt. Die jungen aufgeklärten Frauen akzeptieren diese Rolle nicht, rebellieren gegen ihre Männer und gegen die Politik – und so häufen sich die Frauenmorde. Allein 2021 wurden 280 Frauen von ihren Männern ermordet und 217 Frauen tot aufgefunden, wobei die Todesursache ungeklärt blieb. Auf Druck der islamischen Sektengemeinschaften wurde im März 2021 das völkerrechtlich verbindliche Istanbuler Abkommen, das verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen beinhaltet und für sie einen Schutz darstellt, von Erdogan annulliert. Seitdem kämpfen die Frauen gegen die Frauenmorde und für die Wiedereinführung des Istanbuler Abkommens. Sie durchbrechen die Polizeibarrieren und fordern Herrn Erdogan heraus. Oft ist die Polizei bei ihren kämpferischen Demonstrationen hilflos.

Herr Erdogan betrachtet das Land wie seinen Selbstbedienungsladen. Um des Profits willen zerstört er die Natur und Umwelt des Landes. Um Gold, Kohle, Bausteine und Erze zu fördern, lässt er die schönsten Wälder und Berge, Oliven und Obstbäume des Landes kahlschlagen. Damit werden die Lebensgrundlagen der einheimischen Bevölkerung gefährdet, oftmals ihre Flüsse, Boden und Grundwasser vergiftet und unbrauchbar gemacht. Seit sie gemerkt haben, dass mit dem Vorhaben von Erdogan ihre Lebensgrundlage zerstört wird, gehen alle, alt und jung, Männer und Frauen, Bauer und Landwirte auf die Barrikaden, verhindern die Baumaschinen, kämpfen mit Hacke und Schaufeln gegen die Gendarmerie und verteidigen ihre Wälder, Berge, Täler, Erde und Wasser. Es sind hoffnungsvolle Widerstandsaktionen, die spontanen Charakter haben und auf eine Avantgarde warten, die sie bündeln.

Einen beachtlichen Widerstand gegen die Politik Erdogans leisten seit Jahren die Kurden, die auf4vier Länder, Türkei, Iran, Irak und Syrien, aufgeteilt sind und um ihre nationalen und demokratischen Rechte, um ihre Autonomie und Staatlichkeit kämpfen. Unter diesen Staaten haben sie nur in der Türkei keine Rechte. Ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Identität,  ihr Dasein, alles ist verboten, es ist verboten, Kurde zu sein. In der Türkei ist es ein Verbrechen, sich für diese Rechte einzusetzen. Egal, Kurde oder Türke, wer für diese Rechte eintritt, macht sich strafbar. Es wird als eine Unterstützung für die  PKK, für den „Terror“ angesehen. Seit fast 40 Jahren kämpfen die Kurden in der Türkei unter Führung der PKK für diese Rechte, für Gleichheit und Freiheit, für Selbstverwaltung und friedliches Zusammenleben in einer demokratischen Türkei. Die herrschende Kräften der Türkei, von den Islamisten Erdogans bis zur „sozialdemokratischen“ und nationalistischen CHP, von den faschistischen Grauen Wölfen, von MHP bis zu „links“- kemalistischen Nationalisten, darunter auch die legale SIP-TKP, – sie alle betrachten diesen Kampf der Kurden als Separatismus und als Spaltung des Landes. Deswegen bekämpfen diese Türken die PKK als Erzfeind der Türkei und führen einen sinnlosen Krieg nicht nur gegen die PKK, sondern gegen alle Kurden, die versuchen, eine staatliche Selbstverwaltung aufzubauen. So bekämpft die Türkei heute die kurdische Selbstverwaltung in Rojava, in Nordsyrien, weil sie angeblich eine Gefahr für die Türkei bilde. Deshalb versucht sie, in Rojava die Kurden zu vertreiben und dort eine Sicherheitszone von 30 km Tiefe zu schaffen.

Erdogan versuchte in den ersten 10 Jahren seiner Regierungszeit, mit den Kurden, insbesondere mit Öcalan, der im Inselgefängnis Imrali in Isolationshaft gehalten wird, eine „Verständigung“ zu erreichen. Erdogan handelte in diesen Gesprächen ganz hinterlistig. Er wollte die Kurden mit unverbindlichem, leerem Versprechen überrumpeln und dafür sollten die Kurden nicht als Partei an den Wahlen teilnehmen und die kurdischen Wähler hauptsächlich Erdogan und seine Partei AKP unterstützen. Diese Rechnung ging nicht auf. Aber diese Zeit der Détente, der Entspannung, haben die Kurden und die linken, demokratischen Türken genutzt, um gemeinsam eine legale Partei zu gründen. Nach vielen Verboten entstand die heutige HDP. HDP wagte 2015, als Partei trotz 10-Prozent-Hürde an Wahlen teilzunehmen. Tatsächlich hat die HDP die 10-Prozent-Hürde überwunden und ist mit 13 % Wählerstimmen ins Parlament eingezogen. Das war ein Schock für Erdogan. Er verlor im Parlament die absolute Mehrheit. Daraufhin brach er alle Bindungen zu Kurden ab und erklärte ihnen erneut den Krieg. Er ließ wieder die Kandilberge in Irak bombardieren und unterstützte die IS-Banden, die vor Kobane standen und die Stadt einnehmen wollten. Mit „Hilfe“ von Gewalt und Krieg gewann er die Wahlen am 1. November 2015 mit absoluter Mehrheit. Seitdem gehören Gewalt und Krieg zu seiner Wahlstrategie und führt er einen erbitterten Krieg gegen die Kurden, insbesondere gegen die Rojava-Kurden in Syrien, da sie dort eine demokratische Selbstverwaltung mit anderen Völkern geschaffen haben, die IS-Banden bekämpfen und international große Anerkennung genießen. Das passte Erdogan nicht.

Mit der Wahlstrategie, die auf Gewalt an Kurden und Krieg gegen PKK und YPG basiert, schürt Erdogan einen Nationalismus unter den Türken und erhält die Möglichkeit, alle bürgerlichen Parteien um sich zu scharen. Dies erhöht seine Wählerschaft und lässt ihn die Wahlen gewinnen. Es gibt heute fast keinen Tag, wo Razzien gegen HDP und Kurden geführt, aktive Kurden verhaftet, geschlagen, gefoltert und ermordet werden. Die gewählten Bürgermeister werden abgesetzt, die politischen Tätigkeiten der HDP eingeschränkt. In bestimmten Abständen werden die PKK-Stellungen in Nordirak und YPG-Regionen/Gebiete in Rojava-Syrien bombardiert. Jetzt, seit Mitte April 22, werden PKK-Regionen/Gebiete in Nord Irak angegriffen und gegen die kurdischen Journalisten und Aktivisten in Diyarbakir eine Verhaftungswelle gestartet. Inzwischen sind dutzende Journalisten verhaftet. 

Die Bombardierung der PKK-Gebiete im Irak erfolgt durch Genehmigung der Barzani-Partei KDP. Aber für die Bombardierung der YPG-Stellen in Rojava braucht Erdogan eine Genehmigung von Russland oder von den USA. Putin hat einmal eine Genehmigung erteilt. Erdogan nutzte das aus und marschierte in Afrin ein. Dann erteilte ihm auch Trump eine Genehmigung. Dies ermöglichte Erdogan, in Serekaniye und Tel Abyad einzumarschieren. Diese Städte stehen unter türkischer Kontrolle bzw. unter Kontrolle von IS oder dschihadistischen Armeen. Alle diese Eroberungen stärkten die Positionen von Erdogan, halfen ihm, seine Macht aufrechtzuerhalten. In diesen von ihm kontrollierten Gebiete möchte Erdogan die syrischen Flüchtlinge ansiedeln. Mit dem Krieg in Syrien musste die Türkei vier Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Die Aufgabe der Türkei besteht darin, dass diese Flüchtlinge in der Türkei zurückgehalten werden und ihre Weiterfahrt nach Europa verhindert wird. Dafür bekommt Erdogan natürlich Milliarden Euro von EU.

Bald, entweder im November 2022 oder spätestens im Juni 2023, stehen wieder Wahlen in der Türkei an. Die Parteien haben schon jetzt angefangen, Wahlbündnisse oder Blöcke zu bilden. Erdogan bildete mit faschistischen Kräften, darunter mit der MHP, ein „Bündnis der Republik“, die sechs bürgerlichen Oppositionsparteien, darunter die CHP, bildeten den „6er Tisch“ oder das „Bündnis der Nation“. Die HDP bildete mit neun linken Parteien und Kräften das „Bündnis der Demokratie“. Eigentlich sagt jetzt der gesunde Menschenverstand, dass alle Oppositionskräfte ein Wahlbündnis gegen Erdogan bilden sollten. Aber der türkische Nationalismus der sechs Oppositionsparteien wiegt so schwer, dass sie jede Art des Bündnisses mit der HDP ablehnen. Stattdessen ziehen sie ein Bündnis mit Erdogan vor. Aber ohne Unterstützung der HDP kann weder das „Bündnis der Republik“ noch das „Bündnis der Nation“ die Wahlen, besonders die Präsidentenwahl gewinnen. Sie sehen als Lösung die Vernichtung der kurdischen Bewegung und das Verbot der HDP. Die Anklage gegen die HDP wurde schon bei dem Verfassungsgericht erhoben. Höchstwahrscheinlich wird die HDP vor den Wahlen verboten. Mit ihrem Schweigen unterstützen die Türken diese Praktiken Erdogans. Wenn es um die Repression gegen Kurden geht, scharen sie sich um ihn.       

Angesichts der negativen Entwicklungen in der Wirtschaft und Außenpolitik besteht für die Opposition zum ersten Mal die Möglichkeit, Erdogan von dem Volk abwählen zu lassen. Da sie mit den Kurden keine Verständigung suchen, überlassen sie die Macht lieber Herrn Erdogan. Aber Herr Erdogan denkt nicht daran, die Macht abzugeben. Dafür setzt er wieder auf die Strategie der Gewalt im Land und außerhalb des Landes ein. Innerhalb des Landes organisiert er die paramilitärischen Kräfte und nach Außen hin plant er eine große Militäroperation gegen Kurden in Rojava. Er weiß, dass er nur so die Wahlen gewinnen kann. Aber die USA erlauben ihm keine Militäroperation gegen Rojava. Doch hat Erdogan jetzt eine Gelegenheit gefunden, von den USA Zugeständnisse zu erpressen. Seitdem Ukraine-Krieg möchten Schweden und Finnland NATO-Mitglied werden. Ihrem Beitrittsantrag müssen alle NATO-Staaten zustimmen. Aber die Türkei kündigte an, dagegen ihr Veto einzulegen. Sie fordert von Schweden und Finnland die Auslieferung der „PKK-Terroristen“ und von den USA die Erlaubnis für den Einmarsch in Rojava.

Das ist eine ungeheuerliche Erpressung. Wenn die Europäer und die USA nachgeben und Herrn Erdogan den Einmarsch in Rojava erlauben, dann ermöglichen sie ihm, die Wahlen zu gewinnen. Unter diesen Bedingungen sollte die dringlichste Aufgabe aller Oppositionskräfte sein, sich gegen eine Militäroperation, d.h. gegen einen Krieg in Rojava, zusammenzuschließen. Aber die bürgerliche Opposition hat schon angekündigt, die Militäroperation von Erdogan in Rojava zu unterstützen. Sie sagt, das ist eben eine Nationale Frage. Wenn es um eine Nationale Frage geht, müssen alle selbst mit Herrn Erdogan zusammenstehen, obwohl sie wissen, dass es ihnen bei den Wahlen das Genick brechen könnte. Die Türken sind gegen den Krieg in Ukraine und fordern dort friedliche Lösung. Dasselbe verlangen sie nicht von eigenem Land.

So ist die Lage, liebe GenossInnen, die Türkei ist kein normales Land, die Menschen sind schwieriger, oft fanatisch nationalistisch und islamistisch. Kapitalismus und Bürgertum haben sich in deformierter Form entwickelt, die Wirtschaft ist abhängig vom Ausland, die alte, feudale Produktionsweise und die Subsistenzwirtschaft existieren hier und da noch. Die Bildung einer künstlichen türkischen Nation ist fehlgeschlagen, das Zusammenleben mit anderen Völkern und Religionen ist gescheitert, eine Aufklärung und Auseinandersetzung mit dem Islam hat nicht stattgefunden, eine Toleranz zwischen den Kulturen hat sich nicht herausgebildet. Entsprechend gibt es viele Widersprüche, die ein Knäuel bilden und nicht gelöst werden können. Das sind Klassenwidersprüche zwischen Arbeiter und Bourgeoise, zwischen dem Volk und den Reichen, zwischen imperialistischen, ausländischen und inländischen Kapitalisten, die Widersprüche zwischen der unterdrückenden türkischen Nation und den unterdrückten Nationen wie Kurden, die Widersprüche zwischen der aufgeklärten, laizistischen Bevölkerung und der konservativen, klerikal-islamischen Bevölkerung. Diese Widersprüche sind aktuell und drängen nach Lösungen, die von den herrschen Kräften unterdrückt werden. Das macht die Türkei zu einem Pulverfass. Die Machthaber sind nicht gewillt und bereit, diese Probleme anzupacken. Sie haben Angst, dass das Fass explodieren könnte.

Alle diese Probleme wurden der Republik Türkei schon bei der Gründung in die Wiege gelegt. Die Türkei feiert nächstes Jahr ihr 100-jähriges Jubiläum. Die Republik entstand durch Genozid an Armeniern, Griechen und an anderen christlichen Völkern. Bis heute leugnet die Türkei diesen Völkermord und ist nicht bereit, sich damit auseinander zu setzen. Danach hat die Türkei gleich angefangen, alle islamischen Völker in einer türkischen Nation zu assimilieren. Als große Volksgruppe haben die Kurden gegen diese Politik rebelliert. Seit 100 Jahren versuchen die türkischen Machthaber, den Widerstand der Kurden mit Mord, Hinrichtung und Vertreibung zu unterdrücken. Bis jetzt hat man dies nicht geschafft. Bei der Gründung der Republik der Türkei wurden die Anhänger des Kalifen und des Sultans unter Druck Großbritanniens von der Macht ausgeschlossen. Die Macht wurde den aufgeklärten modernen Jungtürken zugeschlagen. Das haben die klerikal-islamischen Kräfte nie hingenommen und immer versucht die Macht zurück zu erobern. Jetzt haben sie mit Erdogan einen Teilerfolg erzielt. Der Kampf zwischen beiden Kräften geht weiter. Die Briten wollten in Anatolien einen modernen Staat gegen die junge Sowjetunion haben. Das setzte die Ausschaltung der Kommunisten voraus und erforderte die bürgerliche Kontrolle über die Arbeiterklasse. Fast die gesamte Führung der kommunistischen Partei unter Mustafa Suphi wurde 1921 im Schwarzen Meer ermordet. Bis heute leiden die Arbeiterklasse und das werktätige Volk unter diesem Verlust. Eine Abrechnung der Kommunisten mit der Bourgeoise steht noch bevor.  

Erst in den 70er Jahren konnten die Kommunisten trotz der Illegalität wieder in der Arbeiterklasse und in den Reihen der Werktätigen Fuß fassen und eine mächtige Arbeiter- und demokratische Bewegung ins Leben rufen. Die anderen Linkskräfte hatten auch ihre Einflüsse in den Massen erhöht. Diese Entwicklung hat die türkischen Machthaber und die Amerikaner erschreckt. Die USA haben die Generäle beauftragt, diese Entwicklung zu stoppen. Die Generäle putschten am 12. September 1980. Dieser Putsch war eine Zäsur, eine Wende in der jüngsten Geschichte der Türkei. Das Parlament wurde aufgelöst, die Parteien und Gewerkschaften verboten, eine Verhaftungs- und Terrorwelle ging übers Land. Die linken und demokratischen Kräfte, darunter auch unsere Partei, wurden so gründlich zerschlagen, dass sie sich, so die Absicht, nie wieder davon erholen sollten. Nur die Kurden leisteten mit dem bewaffneten Kampf gegen die Militärjunta einen Widerstand, der bis heute andauert.

Die Generäle haben sofort die neoliberale Wirtschaftspolitik eingeführt und mit deren Durchführung den IWF-Mann Özal beauftragt. Alle staatlichen Betriebe wurden privatisiert und verscherbelt. Die meisten Privatisierungen erfolgten durch Erdogan. So wuchs die Zahl der Reichen um diese neuen Reichen an, und sie wächst noch immer, besonders in der Umgebung von Erdogan. Dann haben die Generäle angefangen, die Gesellschaft neu zu gestalten. Es sollte auf der Grundlage des türkischen Nationalismus und des sunnitischen Islams eine neue Gesellschaft geschaffen werden: eine türkisch-islamische Synthese. Das Ziel dieser Politik war die Schaffung eines liberalen Islam und damit die Versöhnung der nationalistisch-kemalistischen Kräfte mit den islamischen Kräften, damit die marxistische Linke keinen Nährboden finden könne.

Grob gerechnet kann man sagen, dass die Linken und Kemalisten 40 % und die Islamisten 60 % der Bevölkerung ausmachen. Die von den Generälen angestrebte Versöhnung hat aber nicht stattgefunden. Nur einige Kemalisten haben den Islamisten Zugeständnisse gemacht, die heuchlerisch waren. Das Ergebnis dieser Politik war die Erstarkung des politischen Islams in der Türkei und der Aufstieg der AKP und des Herrn Erdogan an die Macht. Herr Erdogan ist ein Zögling der USA und des Westens und immer ihr Vertrauter.

Der aufgeklärte Teil der Bevölkerung war mit dieser Politik von Erdogan nicht einverstanden und sah es als eine Einmischung in ihre Lebensweise an. Der Gezi-Aufstand 2013 war ihr Protest. Sie protestierten gegen die Islamisierung der Gesellschaft und gegen die Abschaffung der Demokratie durch Erdogan. Der sah, welche Gefahr vom Gezi-Aufstand gegen seine Macht und sein Vorhaben ausging. Er ließ den Gezi-Aufstand brutal zerschlagen. So waren der Aufstieg des Herrn Erdogan und sein islamischer Umbau der Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten. Es entstand die heutige islamistisch geprägte Türkei, die gesellschaftlich polarisiert und gespalten ist, wirtschaftlich rückständig und abhängig, sozial arm und hilflos. Daran ist auch das Volk schuld, vor allem aber die nationalistische Elite.

Erdogan von der Macht zurückzudrängen, die nationalistische und islamistische Entwicklung im Land zurückzudrehen und eine demokratische Entwicklung zu ermöglichen, wird nur gelingen, wenn die kurdische Befreiungsbewegung und die marxistische Arbeiterbewegung ein Bündnis für Gleichheit, Freiheit, Frieden und Demokratie eingehen werden. Das ist zurzeit nicht möglich, weil in der Türkei keine organisierte marxistische Arbeiterbewegung existiert. Sie muss noch geschaffen werden. Es gibt Parteien mit kommunistischem Namen, aber sie haben keine Verbindung zur Arbeiterklasse und zum Volk. Und unsere Partei, die Kommunistische Partei der Türkei, befindet sich noch in der Aufbauphase, da sie sich von der Liquidation noch nicht erholt hat, die sie in den 90er Jahren in dem Vereinigungsprozess mit den anderen linken Parteien hinnehmen musste. Wir hoffen, dass wir diesen Aufbauprozess erfolgreich bestehen, die Arbeiterklasse wieder mit der marxistischen Bewegung verbinden und unseren Platz finden, um gemeinsam mit den Kurden für Demokratie und Sozialismus zu kämpfen.